Blutroter Wollfaden und der Wollknäuel, alias das Jetzt

Die Produktion und Entwickelung der Zeit

Als Jule Tante Tide, die Hüterin der Zeit kennenlernt, trägt diese an ihrem Rockzipfel einen blutroten Wollfaden, der sich weit in der Ferne verliert.[1]
Während Jules kurzen Besuchs referiert Tante Tide eine in der fünften Ebene völlig unbekannte Zeittheorie, in der dem Wollfaden eine wichtige Rolle zukommt:[2] In Tante Tides Wollknäuel ist das „Jetzt“ oder der „Augenblick“ aufgewickelt. Wickelt man diesen Wollknäuel ab, entwickelt ihn also, dann entsteht die Voraussetzung für die Zeit. Diese Voraussetzung für die Zeit ist jedoch nicht der abgewickelte Wollknäuel selbst, sondern vielmehr der Prozess des Abwickelns oder Entwickelns. Die derart geschaffene Voraussetzung für die Zeit verleiht ihr zugleich Ordnung und Form. Zu dieser Voraussetzung zählt Tante Tide u.a. den Rhythmus, das Tempo und die Richtung der Zeit.
In Wirklichkeit besteht der geheimnisvolle Wollknäuel, aus dem Tante Tide durch Abwickeln oder Entwickeln die Zeit produziert, jedoch nicht nur aus einem Wollfaden, wie es Jule am Anfang schien, sondern aus unzähligen lebendigen, raum- und zeitlosen Energiefäden, vollgepackt mit Wissen und Informationen in unvorstellbar grandioser Art und Menge. Kann man also den Entwickelungsprozess des Wollknäuels als die Form der Zeit bezeichnen, bilden die Energiefäden hingegen den Inhalt der Zeit.
Interessanterweise behauptet Tante Tide nun aber, dass Inhalt und Form zusammengenommen noch immer keine Zeit ergeben, da erst das Gedächtnis aus dieser „Materialgrundlage“ die Zeit produziert. Das Gedächtnis gibt den geformten Energiefäden eine konkrete Deutung oder Bedeutung und kann durch diese Interpretation die Zeit zugleich aktiv verändern.
Erst diese letzte Stufe der Zeitproduktion als Wahrnehmung im eigenen Gedächtnis entspricht dem, was die Bewohner der Ebenen hinlänglich unter Zeit verstehen, auch wenn sie diese Zeitwahrnehmung unterschiedlich interpretieren.

Folgende Punkte erscheinen an Tante Tides Zeittheorie wesentlich:

1. Zeit ist weder objektiv noch subjektiv, sondern eigentlich nur eine Interpretation von Energie. Würden wir diese geformte Energie nicht interpretieren, gäbe es also auch keine Zeit. Da die Gedanken aber nicht nur passiv die Energiefäden interpretieren, sondern sie auch aktiv verändern, kann die Zeit also nur ein Produkt aus vorgeformter Energie und den Gedanken sein.

2. Aufgrund der Tatsache, dass Gedanken gleichsam geformte Energie sind, liegt der Verdacht nahe, dass Zeit letztlich nur in unseren Gedanken existiert bzw. mit diesen Gedanken identisch ist.

 

3. Allein vermittels dieser Gedächtnisaktivität ist es den Wesen ab der elften Ebene auch möglich, ohne die von Tante Tide produzierte Zeit auszukommen, da sie selbst die Produktion der Zeit übernehmen.

4. Die von Tante Tide produzierte Zeit und Zeitordnung ist notwendig für die Lebewesen der niederen Ebenen, da sie derart eine Ordnung schafft und somit der Unendlichkeit Grenzen setzt, damit die Bewohner sich nicht in ihr verlieren.

5. Da die Zeit durch das Gedächtnis produziert wird, existieren auch so viele Zeiten, wie es Gedächtnisse und Wesen gibt. Tante Tide bringt in den niederen Ebenen diese Gedächtnisse jedoch in Gleichklang, um ein Chaos zu verhindern.

6. Die Tatsache, dass die Inhalte der Zeit in Gestalt der lebendigen Energiefäden bereits bestehen, und diese von dem Wollknäuel alias Energieknäuel nur abgewickelt werden müssen, besagt ganz klar, dass in den Ebenen nichts wirklich Neues geschaffen werden kann, dass vielmehr alles bereits vorhanden ist. Die Geschichte ist bereits geschrieben, bevor sie begonnen hat.

7. Gemäß der Zeitauffassung Tante Tides verläuft diese Geschichte in der Zeit genau umgekehrt zur Geschichtsauffassung der fünften Ebene, deren Bewohner davon ausgehen, dass alle Dinge Schritt für Schritt erst geschehen und geschaffen werden und deshalb jeder Augenblick etwas völlig Unerwartetes, Neues hervorzubringen vermag. Dieser tief verwurzelte Glaubenssatz bildet die Grundlage der Kosmologie wie auch der biologischen Evolutionstheorie der fünften Ebene. Tatsächlich jedoch sind gemäß Tante Tide alle Dinge – das heißt, sämtliche ausdehnungslosen „Jetzte“ – bereits im Wollknäuel in der Gleichzeitigkeit vorhanden und werden nur in einer Sukzession abgerollt oder entwickelt.

8. Tante Tides Behauptung, dass wir mit unserer Gedanken- und Gedächtnistechnik bezüglich der Zeit wahre Wunder vollbringen könnten, liegt gemäß ihrer Zeittheorie auf der Hand: Denn haben wir erst einmal gelernt, die Wollknäuel zu entwickeln oder gar unsere eigene Zeit zu produzieren, dann sind wir Herr über Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart und damit auch über das Wissen, das in diesen Zeitfäden angelegt ist. Dieser Schatz wartet darauf, gehoben zu werden.


[1]  Siehe Kap. „Die Hüterin der Zeit“.

[2]  Siehe Kap. „Was ein Wollknäuel mit der Zeit zu tun hat“.


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