Angst

Das Thema der Angst durchzieht wie ein roter Faden die gesamte Handlung des Buches. Sind die Objekte und Inhalte der Angst auch vielfältig, so laufen sie doch sämtlich auf eine gemeinsame Ursache hin:

Die Objekte und Inhalte der Angst

Die Angst vor Tod und Leid

Da gibt es zunächst die Angst vor dem Tod. Wie die Weise Schildkröte ausführt, ist der Tod als Ende des Lebens nicht existent. Was die Menschen der fünften Ebene als Tod fürchten, ist in Wirklichkeit nur ihr Austritt aus der von ihnen vor langer Zeit selbst geschaffenen Welt der verfestigten Energie in die veränderliche, flüchtige Welt, die das eigentliche Zuhause der Menschen bildet. Somit ist der Tod als Endes des Lebens nicht vorhanden. Von seinem Schrecken bleibt nur mehr die Angst vor dem Unbekannten, vor dem Abschied von dem Vertrauten und vor der Freiheit, die das Lebewesen nach dem Tode erwartet.[1]
Doch woher kommt die Angst vor dem Tod? Der Gralswächter Awillouw beschreibt sie als Werkzeuge des Drachen Morsus, mit dem er seine Opfer in Schach hält, damit sie nicht aufwachen und erkennen, in welchen Höllenwelten sie leben, damit sie ihre Stärke und Freiheit nicht erkennen!“[2] Denn nur ein ruhiger, von Ängsten freier Geist kann beobachten und erkennen.

Die Angst vor den eigenen Gedanken und Projektionen

Diese Ängste, seien es nun von Morsus oder selbst erzeugte, entstehen in jedem Falle durch das Denken und besitzen dadurch keinerlei Wirklichkeitsgehalt. Denn Gedanken sind Sammelbecken früherer Erfahrungen, die dann im Sinne von Erwartungshaltungen und Ängsten in die Gegenwart und Zukunft projiziert werden. Wenn der Mensch also denkt, ist er immer nur in seinen Erinnerungen und Projektionen der Vergangenheit oder Zukunft, niemals jedoch in der realen, das heißt unmittelbar erlebbaren Gegenwart. Das gedachte Leben ist also niemals wirklich und damit auch nicht die Ängste, die in den Gedanken manifestiert sind.
Aufgrund dieses teuflischen Mechanismus entsteht die absurde Situation, dass sich die Menschen in der Gegenwart vor etwas fürchten, obwohl es realiter gar nicht vorhanden ist und es damit eigentlich auch gar keinen Grund zum Fürchten gibt. Fürchtet man sich vor dem Tod, dann fürchtet man sich vor den Vorstellungen, die man in der Vergangenheit vom Tod erworben hat. Da man seinen kommenden Tod nicht kennt und auch nicht weiß, wie und was er ist, kann man ihn auch nicht fürchten.
Wird einem dieser Mechanismus irgendwann bewusst, kommt zu diesen irrealen Ängsten dann auch noch die Angst vor den eigenen Gedanken hinzu. Und von diesem Moment an entsteht ein Teufelskreis des Denkens und sich Ängstigen, aus dem man nur schwer wieder hinausgelangt.
Die Weltenköchin Mhayla ermöglichte Jule mittels des Zauberwaldes im grünen Kristall diesen zirkulären Angstmechanismus zu verstehen und zu überwinden: Indem Jule den furchterregenden Wald als unmittelbare Projektion ihrer eigenen ängstlichen Gedanken erkannte, vermochte sie durch die Veränderung und Beherrschung ihrer Gedanken augenblicks und ursächlich auch die Objekte ihrer Angst zu beseitigen.[3]

Die Angst vor den fremden Gedanken

Viel gefährlicher und schwieriger zu überwinden ist die Angst vor den fremden Gedanken, die durch den Drachen Morsus und andere in einem erzeugt werden. Denn jedes Lebewesen, das über die notwendige Energie und Technik verfügt, vermag sich in das Denken anderer Wesen einzuschleichen und dieses zu beherrschen. Dabei bildet die eigene Angst quasi das Tor, durch das die fremden Gedanken eindringen können. In dieser Türöffnerfunktion liegt auch der Grund für den stetigen Zuwachs von Büchern und Filmen des Horrorgenres und den immer schockierenderen Nachrichtensendungen und Katastrophendokumentationen in der fünften Ebene.
Zu der Erkenntnis der fremden Gedanken gelangte Jule erstmals in der gelben Nebelwand. Siehe Glossar „Gelbe Nebelwand“. Jedoch kann man sich auf zweierlei Wegen vor den fremden Gedanken schützen: Hat man sich selbst, sein Wesen und seine Seele ausreichend erkannt, ist man auch in der Lage, die fremden Gedanken von den eigenen zu unterscheiden. Indem man seinen inneren Dialog und damit das Denken selbst abstellt, wird es in der Folge dann auch möglich, die fremden Gedanken abzustellen. Denn in der inneren Stille finden die fremden Gedanken keine Nahrung mehr. Man „hungert“ sie also aus und ist dadurch vor zukünftigen Angriffen durch fremde Gedanken weitestgehend gefeit.[4]

Die Angst vor dem Aufwachen

Eine ganz besondere Angst, ist die Angst vor dem Aufwachen aus dem Traum der Welten, welche Jule bei den Träumenden Buddhas entdeckt. Die Buddhas behaupten, dass alle Welten nur Ergebnis ihres Träumens seien und dementsprechend jene Welten durch ihr Aufwachen zugrunde gehen würden. Wenn aber die Welten ein Produkt ihrer Träume sind, dann – so schlussfolgert Jule – produzieren die Buddhas mit ihrer Angst vor dem Aufwachen auch die Ängste und Schmerzen in den Ebenen und Welten und damit den mysteriösen Riss im Universum.[5] Siehe dazu Glossar „Riss im Universum“.

Die Angst vor der Wahrheit

Der Gralshüter Awillouw verrät Jule, dass der Große Mechanikermeister auf der Suche nach der Wahrheit zu ihm kam, doch dann die Wahrheit aufgrund der Schmerzen, die sie ihm bringen könnte, nicht hören wollte.[6] Diese Angst vor der Wahrheit ist wohl die verbreitetste und zugleich untergründigste Angst in der fünften Ebene. Solange wir uns allerdings der Wahrheit nicht stellen, leben wir weiter in Verwirrung, Konflikt, Verkrampfung, Aggressivität und gehen die falschen Wege. Die Angst vor der Wahrheit lässt uns in alten Denkschablonen und Wegen verharren und dieses Verharren erzeugt Heuchelei und weitere Ängste.

Der Zweck der Angst

Wir haben hier nur einen Bruchteil der möglichen Ängste genannt, die immer in Bezug auf irgendein Objekt bestehen. Und so gibt es prinzipiell ebenso viele mögliche Ängste wie es Objekte gibt. Siehe zum Beispiel Glossar „Wahrnehmen“, Unterkapitel „Angst vor der Unendlichkeit“. Doch was ist der Zweck all dieser Ängste:
Ängste schüchtern den Menschen ein, machen ihn klein. Nicht zufällig leitet sich das deutsche Wort Angst von dem lateinischen Wort angustum = enger Raum ab, was den Zustand der Angst sinnfällig zum Ausdruck bringt. Denn der Ängstliche fühlt sich innerlich beklemmt und eingesperrt und projiziert dieses innere Gefühl zugleich nach außen, so dass er vor der großen weiten Welt in den kleinsten Winkel flieht. Der Ängstliche ist verwirrt und unfähig seine Stärken zu erkennen. Auf diese Weise wird er ein leichtes Opfer für jeden, der ihn zu manipulieren und zu beherrschen trachtet und ihm direkt oder indirekt die Befreiung aus der Angst verspricht. Aus diesem Mechanismus wird aber deutlich, dass, wer auch immer Angst verbreitet, ob im Alltag, ob in Filmen und Büchern etc., damit also immer etwas Böses im Schilde führt!
Wie der Gralshüter Awillouw ausführt, versetzt der Drache Morsus die Menschen nicht nur in Angst und Schrecken, um sie zu lähmen und zu manipulieren, sondern um sich von ihren Ängsten zu ernähren. Denn die Wesen der Finsternis sind alle Energiefresser, die von den negativen Gefühlen der Lebewesen leben.[7]
Doch warum funktioniert überhaupt die Angst, warum lassen sich die Bewohner der Ebenen in Angst und Schrecken versetzen:

 

Die Ursache aller Ängste

Dafür sind vor allem zwei Gründe oder Hauptängste zu nennen und wir wollen dabei nur von den Bewohnern der fünften Ebene sprechen:

Das Gefühl der Sinnlosigkeit und Verlorenheit

Durch ihren langen Abstieg in immer tiefere Ebenen haben die Menschen allmählich ihren göttlichen Ursprung vergessen. Sie wissen nicht mehr, dass sie selbst Gott sind, und dadurch auch nicht, wie großartig und stark sie einst waren und wieder sein können. Auf diese Weise wurden sie immer anfälliger für Lügen, da sie ihre natürliche Unschuld nicht mehr wahrzunehmen vermochten. Aus diesem Orientierungsverlust heraus entstand die untergründige Angst, dass man in der Welt verloren gehen, in seinem Leben scheitern könne und dass die Reise durch die Zeiten keinen Sinn habe.
Aus diesem Grund behauptete die Weise Schildkröte auch, dass die Angst als „Wurzel allen Übels“ von den Lebewesen selbst geschaffen worden sei. Sie fügte aber auch hinzu, dass diese Angst völlig unbegründet ist, da das Leben für alle Lebewesen einen Sinn hat, sie jederzeit geborgen sind und niemals verloren gehen können. Denn sie selbst sind der Sinn und hätten die Geschichte ihrer Lebensreise entworfen. Ja, die Lebewesen legten sogar fest, wann sie diese tiefe Wahrheit, die sie für einige Zeit aus freiem Willen heraus vergessen wollten, wieder erinnern werden.[8]

Der Wunsch nicht sehen zu wollen, wie man wirklich ist

Durch diesen langen Abstieg und das damit einhergehende tiefe Vergessen der göttlichen Wahrheit begannen sich die Menschen über die Zeit durch ihre Handlungen immer mehr und mehr zu beschmutzen. Die Lüge, Falschheit, Feigheit und Niederträchtigkeit wurden ein fester Bestandteil ihrer Persönlichkeit und ihres Lebens. Und da ihre Seelen ihnen, wenngleich nur als dunkle Ahnung, unaufhörlich signalisierten, dass sie auf einem falschen Weg geraten seien, wünschten sich die Menschen nichts sehnlicher, als nicht sehen zu müssen, wie schrecklich sie sich verändert hatten, wie jämmerlich sie nun wirklich waren. Sie hatten Angst vor dieser unerbittlichen Wirklichkeit. Doch dadurch wurden sie empfänglich und verführbar für alles, was diese Angst verschleiern und unterdrücken konnte und somit eine leichte Beute für den Drachen Morsus. Doch dessen Lügen brachten nur kurzzeitig Erleichterungen, um die Menschen darauf nur um so tiefer in immer schlimmere Ängste zu stürzen.
Aus diesen beiden Hauptängsten, der Angst vor der Sinnlosigkeit des Lebens und der Angst vor der Wahrheit, wie man wirklich ist, resultieren letztlich alle anderen Ängste. Und am Ende steht ein Teufelskreis, denn wir fürchten uns vor unseren Ängsten. Wir haben Angst, unsere Ängste anzuschauen. Dadurch, dass die Menschen gerade diese Hauptängste so vehement unterdrücken, sind sie sich der Verbindungen zu den aus ihnen resultierenden Folgeängsten nicht bewusst. Wollen wir uns also generell von den Ängsten befreien, müssen wir zugleich das ganze Geflecht der Fluchtmöglichkeiten vor den Ängsten entwirren, das wir über die Jahrmillionen geknüpft haben.

Die Befreiung von der Angst

Solange wir versuchen die Angst zu unterdrücken, sie zu disziplinieren, zu kontrollieren oder zu verschleiern, halten wir einen Konflikt aufrecht und verbrauchen derart unaufhörlich wertvolle Lebensenergie. Somit geht es bei der Befreiung von der Angst vor allem darum, dieser unglaublichen Energieverschwendung ein Ende zu machen und damit dem Drachen Morsus und seinen gleichsam schmarotzenden Gefährten die Nahrung zu entziehen.
Wenn die Unterdrückung der Angst den energieverschwendenden Konflikt erzeugt, so ist es nur folgerichtig, der Angst direkt ins Auge zu schauen und zwar ohne jede Fluchtabsicht, Verurteilung oder Rechtfertigung, und damit den inneren Konflikt zu beenden. Das heißt, wir sind ängstlich und es ist überhaupt nichts Schlimmes dabei, ängstlich zu sein. Doch je länger und je öfter wir der Angst ohne Scheu mit ruhigem, nüchternem Blick ins Auge schauen, desto kleiner und kleiner wird sie, bis die Angst wie von Zauberhand plötzlich völlig verschwindet.
Aus dieser Tatsache lernen wir dreierlei:
Erstens, dass die Angst nur so lange existiert, wie wir den inneren Konflikt durch Verstecken und Verdrängen aufrecht erhalten und dadurch die Angst mit Energie versorgen.
Zweitens, dass die Angst selbst das Problem ist, das wir lösen müssen und nicht die Dinge, vor denen wir Angst haben. Denn wie bereits erwähnt, können wir theoretisch so viele Ängste haben, wie es Dinge gibt. Wollten wir versuchen, jede einzelne dieser dinglichen Ängste aufzulösen, würden wir nie zu einem Ziel gelangen. Wir müssen also das abstrakte Phänomen der Angst selbst in den Blick nehmen und begreifen.
Dies bedeutet drittens zu erkennen, dass die Angst nur ein Ergebnis des Denkens ist – das heißt, dass Angst in der Ursache ein Gedanke und im Ergebnis ein Gefühl ist. Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen einem Gedanken und der Wirklichkeit. Denn wie wir bereits oben sagten, ist das Denken immer schon alt, da der Gedanke nur das Sammelbecken früherer Erfahrungen und Meinungen darstellt. Die Wirklichkeit jedoch ist hier und jetzt und damit immer jung. Sie hat ihre eigenen Regeln, nicht das Geringste mit der Vergangenheit zu tun und kann mit Gedanken nicht eingefangen werden. So besitzt der Gedanke keinerlei Relevanz für unsere Gegenwart. Beenden wir also das Denken, welches die Angst erzeugt, beenden wir die Angst selbst. Dann leben wir frei ohne Furcht allein in der Gegenwart. Ein Mensch, der wirklich in der Gegenwart lebt, hat keine Angst!

Das Gefühl der Angst ist doch aber etwas Wirkliches, da ein Gefühl immer real ist, wird jetzt der ein oder andere einwenden. Das Gefühl ist in der Tat real, jedoch nicht der innere Beobachter, der diese Angst in sich wahrnimmt. Denn der Beobachter ist bloß das Produkt eines Sammelsuriums von Gedanken und Erinnerungen, die als Ausdruck der Vergangenheit niemals real sein können. Wie aber will man mit etwas nicht Realem, was allein im Denken existiert, ein Phänomen verstehen, das man tatsächlich als Furcht erlebt? Wenn aber der Beobachter durch sein bedingungsloses, gedankenloses und damit angstloses Schauen mit der Angst eins wird, dann verschwindet der Angst erzeugende Konflikt. Denn der Beobachter versucht nicht mehr vor der Angst zu fliehen, sich vor ihr zu verstecken. Und erst dann ist man wirklich frei von Angst.


[1]  Siehe Kap. „Was ist der Tod“. 

[2] Siehe Kap. „Die Offenbarung in der Gralshöhle“. 

[3] Siehe Kap. „Gefangen im grünen Kristall“. 

[4]  Siehe Kap. „Die gelbe Nebelwand“. 

[5]  Siehe Kap. „Im Reich der Träumenden Buddhas“ sowie Glossar „Erinnerungen“. 

[6]  Siehe Kap. „Die Offenbarung in der Gralshöhle“. 

[7]  Siehe Kap. „Die Offenbarung in der Gralshöhle“. 

[8]  Siehe Kap. „Die kosmische Waage – Das Geheimnis der Angst und des Tötens“.


Copyright © 2015 AVOX VERLAG. All rights reserved.

Alle Texte, Illustrationen und Layouts von Ulrich Taschow. Copyright © 2015. All rights reserved.