Böse, das Böse

Das Böse als Schöpfungsprinzip

 In dem Erlebnisbericht der Levitan-Zwillinge werden wir mit vielen Ausprägungen des sogenannten Bösen konfrontiert, die aber von ihrem Ursprung her sämtlich das Böse auf eines der Schöpfungsprinzipien zurückführen:
In der in den Ebenen dominierenden Schöpfungslegende von der Schönen Cloeda und dem Drachen Morsus ist die Erschaffung des Drachen als notwendiges Übel dargestellt, um die Schöpfung wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Denn da der Schöpfer Cloeda als Personifizierung der absoluten Schönheit, Reinheit und Unschuld erschaffen hatte, erstarrten die anderen Wesen alle in Anbetung dieser Schönheit. Die Schöpfung drohte somit bereits im Anfang aus dem Gleichgewicht zu geraten, die Entwicklung zum Erliegen zu kommen.[1] Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet wurde das Böse in Gestalt des Drachen Morsus aus einem inneren Zwang heraus geschaffen, um einen Schöpfungsfehler in Gestalt der einseitigen Absolutheit der Schönen Cloeda wieder auszugleichen. Diese Sichtweise, relativiert die Idee des höchsten Schöpfers, denn sie unterstellt ihm Zwänge und Schwächen, wie sie auch das Leben der Geschöpfe der Ebenen prägen.
Gemäß einer zweiten Sichtweise wird die Erschaffung des Guten wie auch des Bösen in Gestalt der Schönen Cloeda und des Drachen Morsus als ein ganz bewusster Schöpfungsakt verstanden, der völlig frei von irgendwelchen Fehlern, Ängsten und Zwängen ist. Nur diese Sichtweise erscheint widerspruchsfrei, da sie Gott als alles was ist, war und sein wird, begreift, ohne über ihm etwas Höheres oder unter ihm etwas Niedrigeres anzunehmen. Dies bedeutet in der Konsequenz, Gott so jämmerlich, hilflos, bösartig wie das jämmerlichste, bösartigste und hilfloseste Wesen der Ebenen zu begreifen, zugleich aber auch so großartig wie das weiseste reinste und barmherzigste Geschöpf. Nur diese Vorstellung wird der unendlichen Weite Gottes gerecht. Dies bedeutet aber, dass es nichts Gottloses in den Ebenen geben kann. Jedes Lebewesen und jedes Ding ist Gott selbst, eine Trennung der Wesen und Dinge von Gott ist somit völlig unmöglich!

Was ist das Böse

Das Böse ist zunächst erst einmal nur ein Wort, verwendet in Entgegensetzung zum Guten, welches ebenfalls nur ein Wort darstellt. Als Wort ist das Böse immer bereits Ergebnis eines Urteils, ob wir dieses nun kritiklos von anderen übernehmen oder es uns selbst bilden. Religionen, soziale und politische Systeme aller Zeiten haben das Wort des Bösen benutzt und es durch seine pauschale Verwendung bis zum heutigen Tage missbraucht. Unzählige Menschen wurden unter dem Vorwurf des Bösen unschuldig gefoltert, in Gefängnisse gesperrt und ermordet. Und wir sehen bereits hier, wie der Begriff des Bösen in Umkehrung seiner behaupteten abbildenden Funktion aktiv Böses schafft.
Das Wort ist also nicht nur ein Urteil über eine existierende Tatsache, sondern produziert scheinbar akausal diese Tatsache, die es zu beurteilen vorgibt. Damit ist bereits der Gebrauch des Begriffs des Bösen höchst gefährlich. Man erinnere sich diesbezüglich nur an die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit in der fünften Ebene. Wir sollten also äußerst vorsichtig mit dem Wort des Bösen umgehen und allen misstrauen, die dieses leichtfertig über andere urteilend im Munde führen. Denn immer entspringt der Gebrauch oder Missbrauch des Begriffs des Bösen der Kurzsichtigkeit des Urteilenden, der die komplexe Kausalität und Relativität der Dinge im Leben nicht zu überblicken vermag. Oder aber  der Gebrauch des Begriffs des Bösen entspringt der manipulativen Absicht seines Verwenders.
Wenn sich das Böse als Begriff nicht objektivieren lässt, dann müssen wir uns fragen, ob das Böse jenseits der Worte als eine Tatsache existiert. Und sollte es diese „Tatsache des Bösen“ wirklich geben, müssten wir weiter überlegen, ob und wie wir dieses Böse erkennen können. Tatsächlich nun aber lässt sich das Böse nur erkennen, wenn wir bereits wissen, was das Böse ist. Doch darin zeigt sich ein unauflösbarer Teufelskreis.
Wie zu sehen ist, kommen wir mit der Klärung des Bösen als Wort oder auch als Tatsache nicht weiter. Können wir uns vielleicht über den Gebrauch des Wortes des Bösen dem Phänomen in irgendeiner Weise nähern? Vielleicht erkennen wir ja unbewusst etwas als böse, was uns auf der Bewusstseinsebene nur nicht zugänglich ist?:
Die Menschen der fünften Ebene gebrauchen das Wort des Bösen zumeist um etwas zu bezeichnen, was ihren gewohnten oder gewünschten Verlauf der Dinge stört oder stören könnte, auch wenn ihnen dieser psychologische Hintergrund des Wortgebrauchs in den meisten Fällen nicht bewusst ist. Man spricht zum Beispiel von einem bösen Schicksalsschlag oder einem bösen Omen. Aber haben wir im Gegensatz zu dieser Auffassung nicht alle schon die Erfahrungen gemacht, dass dieses sogenannte Böse, auch wenn es uns aus der gewohnten und gewünschten Bahn wirft, letztendlich Gutes schafft, indem es uns zu einer Entwicklung, zur Konsequenz, zu einer ehrlichen Entscheidung zwingt, durch die wir uns dann weiter entwickeln, an der wir wachsen?
Nun kann der ein oder andere sagen, wozu denn diese leidige Entwicklung, wenn sie ständig Unruhe und Unsicherheiten mit sich bringt? Warum sollen wir überhaupt wachsen? Kann nicht alles so bleiben, wie es war? Warum ist die Welt nicht absolut gut, statisch und unveränderlich eingerichtet?

Die unendliche Einsamkeit Gottes

Dies ist eine der schwersten Fragen überhaupt. Stellen wir uns vor, wir selbst wären Gott und somit absolut einsam – das heißt also das Einzige, was existiert. Wenn wir aber kein Gegenüber haben, in dem wir uns zu spiegeln und zu erkennen vermögen, dann wissen wir auch nicht, wer oder was wir sind, und wir erkennen nicht unsere unendlichen Möglichkeiten. Aus dieser Tatsache resultiert die Konsequenz oder Entscheidung, das Stadium der Absolutheit zu beendigen und stattdessen etwas Relatives zu schaffen, in dem man sich selbst zu spiegeln und zu erkennen vermag. Diese Relativa bilden in der ersten Schöpfung die Schöne Cloeda und der Drache Morsus. In unserem Alltag sind es unsere Kinder oder die Dinge und Situationen, die wir tagtäglich erschaffen und verändern. Wenn diese Relativa oder Gegenpole geschaffen sind, kommt aber zugleich auch die Bewegung ins Sein.
Versuchen wir uns vorzustellen, wie wir uns fühlen würden, wenn wir Gott wären und damit das Einzige, was existiert:

Es gibt keinen, von dem wir irgendeinen Ratschlag erhalten können;
keinen der uns sagt, ob wir richtig oder falsch handeln;
keinen, der uns unsere unendliche Einsamkeit nehmen kann;
keinen der uns liebt;
keinen der uns eine Entscheidung abnimmt.
Wir ganz allein tragen die Verantwortung für alles, was wir tun.

Wenn Du diese Tatsachen in voller Konsequenz und Tiefe zu verinnerlichen vermagst, dann weißt Du, wer oder was Gott ist. Und Du wirst hoffentlich nie mehr mit ihm hadern, ihm nie mehr endlose Vorwürfe machen und Dich auch nicht an seine Stelle wünschen, so wie es die meisten Menschen der fünften Ebene heutzutage tun, indem sie behaupten, dass es keinen Gott gebe.

 

Der Sinn und Zweck der Polarität und damit des Bösen

Wer das verstanden hat, wird irgendwann auch verstehen, warum und wie Gott diese Polarität, Relativität und damit die Entwicklung jedes einzelnen Wesens geschaffen hat:
Die Relativität ist entstanden, indem Gott sich selbst teilte und jedem dieser Teile wiederum das Prinzip und die Fähigkeit der fortschreitenden Teilung mit auf den Weg gab. Seitdem sind diese Teile, die auch wir sind, und damit Gott selbst, unterwegs. Allein die Polarität erzeugt die Trennung und damit die Möglichkeit, dass Gott sich selbst im Gegenüber zu spiegeln und zu erkennen vermag. Damit verstehen wir also nun, warum die Ideen des Guten und des Bösen in unseren Köpfen herumgeistern. Sie sind ein Bestandteil des Denkens des Schöpfers und damit auch von uns.
Dieser Prozess der Spiegelung durch Teilung findet also bis zum heutigen Tage in jedem seiner Teile statt, so auch in Dir. Wenn wir uns also mit unseren hellen und dunklen Seiten, guten und schlechten Eigenschaften auseinandersetzen und diese irgendwann ursächlich zu erkennen und zusammenzusehen vermögen, dann werden wir Gott auch in unserer Erkenntnis immer ähnlicher. Und indem wir diese innere Trennung überwinden, überwinden wir auch die Trennung zu Gott. Auf diese Weise erfüllen wir uns und Gott den allersehnlichsten Wunsch, nämlich nicht mehr allein zu sein. Gott wartet sehnsüchtig darauf, dass ein Teil nach dem anderen wieder zu ihm zurückfindet. Denn damit ist Gott nicht mehr allein. Dieser Gott hat jedoch kein Zentrum, denn er ist in jedem Lebewesen, in jedem Ding selbst und damit überall. Also muss Du diesen Gott in Dir selbst suchen und finden. Die Rückkehr zu ihm findet in Dir selbst statt.
Doch diese Rückkehr und Überwindung setzt voraus, dass Du keinem  anderen folgst, nur Dir selbst, keiner Ideologie oder Religion, keiner Gewohnheit, keiner Angst und keinem Zwang. Es setzt voraus, dass Du die Verantwortung für Dein Tun voll und ganz allein übernimmst und keinen anderen für die Qualität Deines Lebens verantwortlich machst, auch nicht Gott, keinem vorwirfst böse zu sein und Dich dabei selbst als gut hinstellst. Erst dann bist Du in der Lage, die unendliche Einsamkeit Gottes zu ertragen und damit zugleich diese zu überwinden.

Der große Zweifel

Nun werden einige sagen, das klingt ja alles ganz nett. Doch, was ist, wenn es Gott überhaupt nicht gibt? Dann werden all unsere Bemühungen umsonst sein. Wieder einmal werden wir durch falsche Versprechungen und Hoffnungen betrogen, wie wir es tagtäglich in unserem Leben erfahren müssen.
Dieser konkrete Zweifel ist berechtigt und jeder muss ihn ernst nehmen und anerkennen! Denn er ist ein Bestandteil der Polarität und damit Gottes selbst. Was Du in Dir spürst, ist letztendlich der Zweifel Gottes an sich selbst, an seiner Existenz, den Du dadurch zwangsläufig in Dir wahrnimmst. Denn Du selbst bist, wie schon gesagt, Gott. Es gibt keinen Unterschied zwischen Dir und Gott! Und es wäre deshalb geradezu absurd, wenn Du nicht die Gedanken Gottes kennen würdest.
Doch damit ist dieser Zweifel in uns zugleich ein untrüglicher Beleg für die Existenz Gottes! Und wir verstehen endlich in ganzer Tiefe, warum Gott einst die Polarität schuf und sich selbst teilte: Er wollte sich selbst erfahren und damit seinen inneren Zweifel über seine Existenz überwinden. Der Zweifel aber war der erste Schritt zur Schöpfung.
Und noch etwas belegt die Wahrhaftigkeit der Existenz Gottes: Die Tatsache, dass wir immer wieder an dem Leben und seinem Sinn zweifeln, dass wir mit gewissen Umständen auf der Welt, mit dem täglichen Leid, dem Hass, der Gewalt und Missgunst hadern, verweist direkt auf Gott und auf unsere eigene Göttlichkeit. Denn nur, weil wir von der Existenz dieser göttlichen Prinzipien und damit von dem Guten, Reinen, Unschuldigen und Schönen wissen, können wir uns an den Schlechtigkeiten der Welt reiben, diese negativen Dinge überhaupt als solche erfahren. Wir haben dieselbe Relativität in uns wie Gott. Denn die Widersprüche sind ein Bestandteil der Schöpfung selbst.
Stellen wir uns vor, alles wäre so, wie es der Gralshüter Awillouw behauptete, nämlich dass die gesamte Schöpfung eine einzige Mörderhöhle sei.[2]

Wenn dies tatsächlich der einzige Zustand der Wirklichkeit wäre, dann würde er das Normalste auf der Welt sein. Dies hieße in der Konsequenz, wir wüssten nicht das Geringste von einer anderen besseren Welt und könnten uns somit auch gar nicht an dem Bösen stören, das in und um uns existiert. Doch, wie schon gesagt, ist dem nicht so. Im Gegenteil vermögen wir sehr deutlich die Prinzipien der Schöpfung zu erkennen, das Gute dem Bösen – nicht pauschal als Wort, sondern immer konkret in der Handlung – gegenüberzustellen. 

Wie besiegen wir das Böse

Wir besiegen das Böse, indem wir anerkennen, dass wir vom Prinzip her das Gute und Böse gleichermaßen in uns tragen, und allein dafür verantwortlich sind, welches der Prinzipien wir auf welche Weise ausleben. Denn dadurch müssen wir nicht mehr den Kampf gegen einen Teil unser selbst und damit gegen Gott führen. Wir brauchen unsere dunklen Seiten nicht mehr zu fürchten, müssen diese Abgründe nicht mehr vor uns selbst und vor den anderen verstecken, nicht mehr vor ihnen fliehen oder sie in Gestalt des Bösen in unsere Mitmenschen, in die Natur oder irgendwelche fiktiven Kräfte hineinprojizieren. Wenn wir dies erreicht haben, produzieren wir selbst keine Gewalt und keine Leiden mehr. Wir manifestieren durch unsere Vorurteile nicht mehr das Böse in den anderen und uns selbst. Und damit geben wir auch unseren Mitmenschen die Möglichkeit, diese Prinzipien in sich zu erkennen und sie damit zu überwinden. Siehe dazu auch das Kap. „Die Heilung der Welt“.
Damit verstehen wir auch, was die Weise Schildkröte dem Hasen Hasso von Haiden anzudeuten versuchte:
„Deine ganze Reise ist nur ein Traum. Immer warst du in Sicherheit geborgen. Keiner kann verloren gehen auf seiner langen Reise.“
„Ja aber das Böse?“, stieß der Hase empört hervor, als wolle er die Schildkröte der Falschaussage überführen.
„Ach ja, das Böse“, wiederholte die Schildkröte mit gespielt ängstlicher Stimme: „Papperlapapp, das Böse gibt es nicht. Es gibt nur die Liebe. Alles ist von Gott erschaffen und somit Gott. Außerhalb von Gott ist nichts, weil Gott außen und innen zugleich ist. […] Das was ihr das Böse nennt, kommt nicht von außen in die Welt von irgendwelchen bösen Mächten, Drachen, Teufeln und Dämonen. Vielmehr habt ihr das Böse selbst geschaffen und nur ihr könnt es wieder abschaffen. Diese Arbeit nimmt euch kein anderer ab.“[3]
Wenn Du in der notwendigen Tiefe und Absolutheit verstehst, dass Gott und Du identisch sind, dann verstehst Du vollständig, was die Schildkröte mit ihrem letzten Satz gemeint hat.

[1]  Siehe Kap. „Die Legende von der Schönen Cloeda“.
[2]  Siehe Kap. „Die Offenbarung in der Gralshöhle“.
[3]  Siehe Kap. „Die Antworten der Weisen Schildkröte“.


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