Gänsegeier, alias Stein des Gänsegeiers

Eins plus Eins ergibt Eins oder das Anhalten der Zeit

Zweimal taucht der mysteriöse Gänsegeier in der Geschichte leibhaftig auf und bildet derart Anfang und Ende, Alpha und Omega der abenteuerlichen Reise Jules, Franzis und des Hasen Hasso von Haiden durch die Ebenen. Zum ersten Mal erblickte Jule den Vogel, auf dem morschen Baumstamm in der Nähe der Bahnstrecke sitzend, als gerade ein riesiger Stein aus heiterem Himmel auf sie herniederstürzte. Da begann ihr großes Abenteuer. Als Jule und Franzi nach ihrer Begegnung mit der Schildkröte sich erneut auf der Heide in der Nähe der Bahnstrecke wiederfinden, wiederholt sich die Szene dann fotografisch.[1]
Noch seltsamer wird diese Begebenheit, als die Weise Schildkröte Jule gegenüber behauptet, dass der Stein des Gänsegeiers tatsächlich noch gar nicht zu Boden gefallen sei, da sie ihn für einen Augenblick in seinem Fall aufgehalten und damit die Zeit selbst angehalten habe. Durch das Anhalten der Zeit hätte sie den Vorhang nur einen kleinen Spalt weit aufgezogen, gerade so weit, dass Jule, Franzi und der Hase flugs hindurch huschen konnten, um ihr großes Abenteuer in den Ebenen zu beginnen.[2]
Diese Behauptung widerspricht Jules Erinnerung, gemäß der jener Stein bei ihrer ersten Begegnung mit dem Gänsegeier den morschen Baumstamm zermalmte.
Doch die Schildkröte fährt erklärend fort: Das, was Jule gesehen habe, hätte sie in der Zukunft gesehen, weil jede Seele ihre eigene Geschichte kennt! Jule solle ihr nur Glauben schenken, die Auflösung dieses Rätsels würde sie noch schnell genug erleben.[3]
Laut den geheimnisvollen Ausführungen der Schildkröte handelte es sich bei dem scheinbaren Zeit-Paradoxon des Falls des Steins am Anfang und am Ende der Reise durch die Ebenen also um ein und dasselbe Ereignis. Jules Erinnerung war also gar keine Erinnerung, sondern vielmehr ein visionärer Blick in die Zukunft. Und erst bei ihrer zweiten Begegnung mit dem Gänsegeier handelte es sich um das reale Geschehen in der Gegenwart. Mit anderen Worten: Der Beginn des Erlebnisberichts Jules und Franzis im 21. Jahrhundert in Gestalt ihrer Bahnreise von Warnemünde nach Berlin war gar nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft.[4] Umgekehrt ist ihre Zeit im Berlin der zwanziger Jahre nicht die Vergangenheit, sondern in Wirklichkeit die Gegenwart.
Somit hat sich die gesamte Reise Jules durch die Ebenen in dem einen Augenblick des Fallens bzw. Anhaltens des Falls des Steins des Gänsegeiers abgespielt. Zu dem Zeitpunkt, da Jule und ihre Freunde bei der Weisen Schildkröte weilen, ist der Stein noch nicht zu Boden gefallen, was bedeutet, dass die Schildkröte ihre Ankunft im Berlin der zwanziger Jahre erstaunlicher Weise bereits vorausgesehen hatte.

  Und tatsächlich endet der Aufenthalt bei der Schildkröte in dem Moment, wo diese den Stein zum weiteren Fall frei gibt und dieser den morschen Baumstumpf zertrümmert.
Abgesehen von den ungeheuerlichen, kaum zu fassenden Behauptungen der Weisen Schildkröte, gibt sie sich hiermit interessanter Weise als eine der Initiatorinnen von Jules großer Reise durch die Ebenen zu erkennen. 

Die große Paradoxie

Klingen die Erklärungen der Schildkröte auf den ersten Blick auch recht plausibel, so bleibt doch noch immer ein großes, nicht aufgelöstes Paradoxon in der höchst seltsamen Ereigniskette: Denn wenn Jule beim ersten Fall des Steines wirklich nur ihre Zukunft gesehen hätte, dann müsste sie gemäß dieser Logik jetzt, wie Franzi auch, über 90 Jahre alt sein. Tatsächlich betrug ihr Alter zum Zeitpunkt ihres Erlebnisses am Bahndamm von Warnemünde nach Berlin im 21. Jahrhundert erst 12 Jahre. Darüber hinaus waren Jule und Franzi ja bei ihrem zweiten Zusammentreffen mit dem Gänsegeier gar nicht im 21. Jahrhundert, sondern vielmehr im Jahre 1925 angelangt.
Verweigern wir uns also aus diesen guten Gründen der Erklärung der Schildkröte und nehmen statt eines einzigen Ereignisses beim Steinfall des Gänsegeiers zwei zeitlich verschiedene Ereignisse an, dann erhalten wir das Paradoxon, dass es im 21. Jahrhundert zwei Jules, zwei Franzis, zwei Herr Levitans und zwei Frau Siebenblatts alias Frau Levitans geben müsste. Die Eltern hätten dabei etwas das gleiche Alter, die Mädchen jedoch wären einmal 12 und einmal 96 Jahre alt.
Wie man aus diesen Überlegungen ersehen kann, ist die ganze Begebenheit doch nicht so einfach, wie es auf den ersten und zweiten Blick schien. Ich persönlich vermute einen Streich der Schildkröte, die nicht umsonst das Attribut die „Weise“ trägt. Ganz offensichtlich hat sie uns derart ein Rätsel mit auf den Weg gegeben, durch dessen Lösung wir unsere festgefahrenen Begriffe von Raum und Zeit aufbrechen und eine neue Freiheit des Denkens gewinnen sollen. Ganz gewiss werden wir irgendwann ihr Rätsel lösen.


[1]  Siehe Kap. „Auf der Heide und Hasenglück“ sowie Kap. „Der Stein fällt zu Boden“.

[2]  Siehe Kap. „Die Verabredung“.

[3]  Siehe Kap. „Die Verabredung“.

[4]  Siehe Kap. „Von Warnemünde nach Berlin“.


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