Leo Levitan, Professor

Die zwei so unterschiedlichen Professor Levitans

In dem Bericht der Levitan-Zwillinge haben wir es mit zwei Professoren Leo Levitan zu tun, zum einen mit dem aus dem 21. Jahrhundert, zum anderen mit dem aus dem Berlin der zwanziger Jahre:
Der Professor Levitan des 21. Jahrhunderts wird in dem Bericht als vielschichtige Persönlichkeit dargestellt, die sich je nach Situation und Bewusstseinszustand sehr unterschiedlich verhält und offensichtlich weit unter seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten lebt. Diese Tatsache wird spätestens bei der Begegnung mit den Träumenden Buddhas offensichtlich, als Jule einen Lieblingssatz ihres Vaters zitiert: „Wenn wir träumen, dass wir träumen, sind wir kurz vor dem Aufwachen“.[1] Tatsächlich hielt Herr Levitan damit die Lösung für eines der Hauptprobleme des Universums in Gestalt des Aufwachens aus dem Traum der Ebenen und Welten in den Händen, ohne dass ihm dies in der höchst jämmerlichen Existenz seines Daseins als verbeamteter deutscher Universitätsprofessor bewusst gewesen wäre. Siehe Glossar „Energie“, Unterkapitel „Der Urzustand der Energie vor der Schöpfung der Ebenen“, sowie Glossar „Träumende Buddhas und das Orakel des Aufwachens“.
Der Professor Levitan des 21. Jahrhunderts ist ein typischer zerstreuter, eher lebensfremder Professor, der ständig zwischen rationalen und irrationalen, romantischen Standpunkten hin und her wechselt. Seine Glaube an und seine Liebe zur Unendlichkeit teilt er mit dem Professor Levitan der zwanziger Jahre. Deshalb ist er auch den esoterischen und metaphysischen Dingen gegenüber aufgeschlossen, die er als Teile einer geweiteten Wissenschaft begreift. Seine Feindschaft gegenüber der um sich greifenden Ordnung ist legendär. Besonders grotesk sind seine manchmal leicht größenwahnsinnigen Züge bezüglich seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten, die im nächsten Moment schon wieder in einer übermäßigen Kleinmütigkeit zusammenfallen. Wenn ihn etwas sehr ärgert, kann er auch schon aggressiv und hart reagieren. Der Herr Levitan des 21. Jahrhunderts ist im Vergleich zu dem des Berlins der zwanziger Jahre eher gesellschaftsscheu. Seine Tochter Jule hilft ihm, so weit wie es geht, trotz bzw. gerade wegen seiner Schrulligkeiten und Hilflosigkeiten, die Widrigkeiten des Lebens zu meistern.
Derartige Widersprüchlichkeiten in der Persönlichkeit verweisen fast immer auf etwas Größeres im Menschen, das darum kämpft ans Tageslicht zu gelangen. In diesem Sinne ist die Widersprüchlichkeit in Professor Levitans Verhaltens ein Indiz für den Abwehrkampf, den das oberflächliche Alltagsbewusstsein gegen die erwachende tiefere Existenz in ihm führt. Siehe dazu unten „Die vielschichtige Existenz Herrn Levitans“.
 Der Professor Levitan im Berlin der zwanziger Jahre erscheint hingegen als äußerst weltgewandt, im Leben stehend, mit einem Überschuss an Lebensenergie, Willenskraft und innerer Festigkeit – Eigenschaften, die er wie im Falle Erich Kästners gern zum Wohle anderer Menschen einsetzt. Zu Professor Levitans Wirken im Berlin der zwanziger Jahre siehe auch Glossar „Erich Kästner, alias Geist aus der Decke“, Unterkapitel „Die enge Freundschaft Erich Kästners und Leo Levitans“. Wie erklären sich diese zwei verschiedenen Persönlichkeiten Leo Levitans?

Die äußere Erscheinung Professor Levitans

Herr Levitan ist sehr groß und hager. Er trägt kurzes schwarzes Haar. Seine Nase und Augenbrauen sind scharf geschnitten, wohingegen seine vollen Lippen im starken Kontrast dazu fast weibliche Züge besitzen. Sowohl der Levitan der zwanziger Jahre als auch der des 21. Jahrhunderts besitzen seltsamerweise die gleiche dicke schwarze Brille mit runden Gläsern. Auch in der Kleidung sind sich beide erstaunlich ähnlich. Herr Levitan trägt üblicherweise dunkle Anzüge mit weißem Hemd und Fliege und ein rotgepunktetes Seidentaschentuch in der Jackettasche.

 

Die historischen Fakten

Meine historischen Nachforschungen ergaben, dass es Herrn Professor Levitan unter leicht geändertem Namen tatsächlich im Berlin der zwanziger Jahre gegeben hat. Auch war er mit einer Frau Namens Rosalie Levitan, geborene Siebenblatt, verheiratet und der Vater der Zwillinge Jule und Franzi Levitan. Geboren wurde Herr Levitan am 21.Dezember 1885 als Sohn eines Bankiers in Breslau und wohnte dann aus bis dato ungeklärten Gründen ab dem Jahre 1902 in Berlin bei seiner Tante Rahel Berggruen. Fünf Jahre, von 1920 bis 1925, arbeitete er eher sporadisch als Privatdozent an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität in den Fächern Klassische Philologie und Geschichte und lebte ansonsten das Leben eines wohlhabenden Privatiers. Ab dem Jahre 1933 verliert sich seine Spur im Dunkel der Geschichte. 

Die vielschichtige Existenz Herrn Levitans

Ein Aufklärung über Herrn Levitans mindestens doppelschichtige Existenz wird erst möglich werden, wenn wir die Synchronizität der beiden Leo Levitans in zwei völlig unterschiedlichen Zeiten und Lebensumständen verstanden haben. Bis dahin müssen wir davon ausgehen, dass es sich bei beiden unerklärlicherweise um ein und dieselbe Person handelt und somit alles Gesagte auf beide Levitans zutrifft:
Der Echogeist Anawrin behauptet, dass Herr Levitan in seiner wahren Existenz ein mächtiger Zauberer sei, der aber noch schlafe – das heißt, dass er diese Tatsache des Zaubererseins vergessen habe. Deshalb sei er auch gefährlich, da er sorglos mit seinen Gedanken umgehe, ohne von deren mächtiger Wirkkraft zu wissen.[2] Diese Gedanken- oder Zauberkraft findet bereits eine gewisse Bestätigung in Gestalt Herrn Levitans ausgeprägter Fähigkeit des bewussten Träumens sowie in seinem von Jule nachdrücklich erwähnten außergewöhnlichen Vermögen des Erfindens unendlicher Geschichten. Tatsächlich handelt es sich bei beiden Dingen um uralte Zaubertechniken.
Das Zusammentreffen Jules und ihres Vaters im Schwarzen Labyrinth der Energiespinne Ecoli verweist gleichsam auf einen tieferen Hintergrund seines irdischen Tuns. Auf die Frage Jules, warum sie ihn nicht befreien könne, antwortet er geheimnisvoll: „Ich kenne den Weg ins Licht. Er führt durch das Dunkel.“[3]
Die Tatsache, dass in dem Labyrinth seine Gesichtszüge unaufhörlich mit denen des Großen Mechanikermeisters wechselten, verunklart die Angelegenheit nur noch mehr. Welche Verbindung hat Professor Levitan zu dem Mechanikermeister? Ist er ein Teil von ihm, eine Reinkarnation des Mechanikermeisters in der fünften Ebene, eine Art Avatar? Dafür könnte auch die Gutenachtgeschichten-Szene im Berlin der zwanziger Jahre sprechen, wo Jule ebenfalls für einen Moment die Züge des Mechanikermeisters in ihrem Vater zu entdecken glaubte.[4]
Schließlich ist auch noch auf die dunkle Aussage des Pförtners des Ägyptischen Museums zu verweisen, der Herrn Levitan als „Zauberer Amphortaz, den Hüter des Wachstums und des Getreides“ bezeichnete.[5] Auch diese Aussage bleibt im Bericht seltsam singulär und ungeklärt.


[1]  Siehe Kap. „Zaubereien eines Bildes“.

[2]  Siehe Kap. „Unerwartetes Wiedersehen mit dem Echogeist“.

[3]  Siehe Kap. „Das Schwarze Labyrinth“.

[4]  Siehe Kap. „Eine höchst ungewöhnliche Verabredung“. 

[5]  Siehe Kap. „Im Ägyptischen Museum“. 


Copyright © 2015 AVOX VERLAG. All rights reserved.

Alle Texte, Illustrationen und Layouts von Ulrich Taschow. Copyright © 2015. All rights reserved.