Rosenfee, alias Frau Siebenblatt

Frau Siebenblatt die Rosenfee

Wiederholt wird Frau Siebenblatt in dem vorliegenden Buch mit der Rosenfee in Verbindung gebracht, das erste Mal in einer Art Offenbarungsakt durch Herrn Professor Leo Levitan,[1] später dann durch Herrn von Treskow,[2] aber auch durch den zwielichtigen Monsignore Moschkotani.[3] Nähere Erklärungen dazu fehlen, obwohl Frau Siebenblatts außergewöhnlich starke Liebe zu Rosen eine derartige Verbindung zu unterstützen scheint. Auch über die Frage, was eine Rosenfee eigentlich darstellt, kann man nur spekulieren: 

Was ist eine Rosenfee?

Professor Levitan behauptet, dass ein Tropfen von Frau Siebenblatts Blut das wichtigste Ingredienz zu einem geheimnisvollen Aufwachmittels sei. Und Herr von Treskow erscheint gar als der Anhänger eines Geheimbundes, in dem die Rosenfee eine zentrale Rolle zu spielen scheint. Dabei bringt er Rosalie Siebenblatt alias die Rosenfee sowohl mit der griechischen Göttin der Schönheit und der Liebe, Aphrodite, als auch mit der Heiligen Rosalia, einer italienischen Heiligen des 12. Jahrhunderts,[4] in Verbindung. Die gemeinsame Klammer zwischen allen drei Personen, Aphrodite, Rosalie und Frau Siebenblatt, scheint der Mythos der Aufwachsubstanz zu bilden, der wiederum eng mit den Rosen als zweiter Klammer verbunden ist. Denn die Rose fungiert als das Symbol der Liebe und damit der Aphrodite und taucht überdies im Namen der italienischen Heiligen wie auch Frau Siebenblatts auf. Laut Herrn von Treskow hat die Heilige Rosalie ihre Gedanken der Liebe sogar direkt in Rosen verwandelt und sich von deren Blütenblättern anschließend ganze sieben Jahre ernährt.
Begreift man die Liebe im übertragenen Sinne als ein Aufwachmittel, dann ist damit auch die erste Klammer erklärt. Ob diese Deutung richtig ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Die meisten Menschen begreifen die Liebe jedenfalls eher als das Gegenteil von Aufwachen, nämlich als einen irrealen Dämmerzustand, aus dem man notgedrungen oder auch glücklicherweise früher oder später wieder erwacht. 

Sigrdrífa, Dornröschen und der Schlaf

In dem jüngsten Telefongespräch, das ich mit der heute 96-jährigen Franzi hatte, gab sie mir den Tipp, mich doch einmal mit der Wotan-Sage und auch mit dem Märchen vom Dornröschen zu beschäftigen. Beides habe ich getan und in der Tat Erstaunliches herausgefunden:
Der germanische Göttervater Wotan verurteilte Sigrdrífa, eine Art Fee oder Walküre seines Gefolges, wegen Ungehorsam dazu, ihre Zauberkraft aufzugeben und sich stattdessen zu verheiraten. Zur Umsetzung dieses Urteils stach er sie mit einem sogenannten Schlafdorn (einer Heckenrose), wodurch die Fee augenblicks in tiefem Schlaf versank. Nur der Mann, der sie zu erwecken vermochte, sollte sie zur Frau gewinnen.
Im Märchen Dornröschen hingegen wird einem König nach langen Warten endlich eine Tochter geboren. Aus Freude darüber lädt er zwölf Feen zu einem Fest. Die dreizehnte Fee, die nicht eingeladen worden war, verflucht das Mädchen, dass es sich an seinem fünfzehnten Geburtstag an einer Spindel stechen und daran sterben solle. Eine der zwölf Feen wandelt diesen Todesfluch jedoch mitleidig in einen hundertjährigen Schlaf um. Die Prinzessin sticht sich an der Spindel und fällt gemeinsam mit dem gesamten Hofstaat in einen tiefen Schlaf.

 

Das Schloss wird mit einer undurchdringlichen Dornenhecke umgeben, die sich erst nach hundert Jahren in Rosen verwandelt. An diesem Tag gelangt ein Prinz in den Turm. Er küsst die Königstochter wach, womit auch der Schlaf des Hofstaates endet. Dornröschen und der Prinz heiraten.

Tatsächlich sind in den beiden Geschichten sämtliche Steine des Puzzles um die Rosenfee enthalten:

a) das Motiv der Rose, die wie auch bei Herrn Levitan und Frau Siebenblatt, mit dem Motiv des Schlafs verbunden ist,
b) das Motiv des Aufwachens,
c) das Motiv der Liebe und
d) das Motiv der Feen, die in beiden Geschichte eine wichtige Rolle spielen. Jedoch gibt es im Falle von Frau Siebenblatt und Herrn Levitan eine seltsame Abweichung. Während in den beiden uralten Geschichten die Rose bzw. deren Stich den Schlaf erzeugt und die Liebe das Erwachen bringt, sollen hier Stich und Rose umgekehrt letztlich das Aufwachen ermöglichen. Doch wie schon gesagt, nur „sollen“. Denn in Wirklichkeit führt auch hier der Rosenstich zu einem träumerischen Schlaf. Neu daran ist hingegen, dass Geliebter und Geliebte gemeinsam einschlafen und damit von Anfang an in Liebe verbunden sind.

Doch wie soll man diese Puzzlesteine deuten und zusammensetzen:

1) Das Motiv des Schmerzes und der Liebe, das sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte Jules zieht, wird in der Rose als Symbol der Liebe und mit ihrem Dorn als Symbol des Schmerzes unmittelbar greifbar. Bedingt die Liebe den Schmerz oder aber ist sie umgekehrt eher das Rezept gegen den Schmerz?
2) In der Legende von Sigrdrífa wie auch im Märchen Dornröschen ist tatsächlich die Liebe bzw. der Kuss aus Liebe jeweils das Aufwachmittel, was unsere anfängliche Deutung im Kontext des Aufwachmittels unterstützt.
3) Im Dornröschen bewachen die Dornenhecken der Rose den Schlaf. Der Schlaf wiederum ist das Gefäß des Traumes und der Traum das schöpferische Werkzeug, mit dem nach Aussagen der Regenbogenschlange und der Träumenden Buddhas die Welten erschaffen werden. Dieser schöpferische Aspekt schafft eine Verbindung zu der eingangs erwähnten Aphrodite, die ursprünglich die griechische Göttin des Wachsens und Entstehens war. Diese ursprüngliche Bedeutung Aphrodites verweist wiederum markant auf eine Doppelexistenz Herrn Leo Levitans, der von dem Pförtner des Ägyptischen Museums als „Zauberer Amphortaz, Hüter des Wachstums und Getreides“ bezeichnet wurde.

Trotz dieser Deutungen der Puzzlesteine wissen wir leider noch immer nicht genau, was die Rosenfee nun tatsächlich ist. Jedoch wurde deutlich, dass sie auf irgendeine Weise mit den Gegensatzpaaren „Liebe und Schmerz“ sowie „Schlafen und Aufwachen“ verbunden ist. Alles Weitere bleibt der weise wirkenden Absicht in der Zukunft vorbehalten.


[1]  Siehe Kap. „Spekulationen bei der Rosenfee in der Uhlandstraße“.

[2]  Siehe Kap. „Der denkwürdige Besuch bei Herrn von Treskow“.

[3]  Siehe Kap. „Spukereien in der Margaretenstraße“.

[4]  Laut der Überlieferung soll die Heilige Rosalie um 1130 in Palermo, Sizilien geboren, dann als wunderbewirkende Einsiedlerin und Heilige auf dem Monte Pellegrino gelebt haben und am 4. September 1166 ebendort gestorben sein. 


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